WARUM DIE 30-STUNDEN-WOCHE DIE ZUKUNFT DER ARBEITSWELT IST

Weniger ist mehr: Was sind die Vorteile der 30-Stunden-Woche? Und worauf kommt es bei der Umsetzung wirklich an?
September 26, 2019 | Text: Lucas Palm

KÜRZERE ARBEITSZEITEN STEIGERN DIE PRODUKTIVITÄT

«Mehr Freizeit statt Geld!» Was früher arbeitsscheue Hippies skandierten, entpuppt sich zunehmend als betriebswirtschaftliches Erfolgsrezept. Schließlich belegt eine fast schon unüberschaubare Anzahl an Studien, dass ein immer größerer Teil der Arbeitnehmer in unseren Breiten mehr Freizeit einem höheren Gehalt vorziehen würde. Das findet laut einer Erhebung des Online-Portals meinestadt.de aus dem vergangenen Jahr mehr als jeder Zweite der 9252 befragten Fachkräfte, nämlich 52,5 Prozent.

Das Statussymbol ist daher nicht mehr das Gehalt, sondern die Zeit.

eMagnetix-CEO Klaus Hochreiter über den großen Unterschied zwischen den Generationen an Arbeitnehmern

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Laut mehreren Studien in unterschiedlichsten Betrieben birgt die 30-Stunden-Woche erstaunlich viele Vorteile: höhere Produktivität, entspanntere und ausgeglichenere Mitarbeiter und nicht zuletzt – bessere Umsatzzahlen. Dass die 30-Stunden-Woche nicht für jeden Betrieb und jede Branche der Schlüssel zum Erfolg ist, versteht sich von selbst. Doch ihre erwiesenen Vorzügen können – und sollten – für die Unternehmen der Zukunft Anlass sein, die Starrheit der 40-Stunden-Woche zu hinterfragen – und vor allem: Neues zu wagen.

Besonders bezeichnend: Bei den Arbeitnehmern in den Dreißigern ist der Anteil mit 62,4 Prozent am höchsten. Dass – zumindest laut dieser Umfrage – nur fast jeder Vierte bereit wäre, für ein Mehr an Freizeit auch mehr Einsatz in der verbleibenden Arbeitszeit zu zeigen, sollte nicht über den neuesten Erkenntnisstand in Theorie und Praxis hinwegtäuschen: Kürzere, genauer: gebündeltere Arbeitszeiten steigern in der Regel die Produktivität – und damit die Umsatzzahlen.

GEWINN HOCH DREI

Getreu dem firmeneigenen Werbeslogan bewies bereits Anfang des Jahrtausends eine Toyota-Werkstatt im schwedischen Göteborg, dass nichts unmöglich ist. Dort wurde nämlich der 6-Stunden-Tag eingeführt. Und damit die achtstündige Öffnungszeit, die der Händler bis dahin für seine Kunden im Service geboten hatte, auf zwölf Stunden ausgedehnt. Die Mitarbeiter arbeiteten in zwei Schichten: eine von sechs bis zwölf, die zweite von zwölf bis 18 Uhr. Für jeden Mitarbeiter wurde damit die Arbeitszeit um zwei Stunden gekürzt – während der Umsatz hingegen stieg.

Für den Toyota-Dealer eine Win-win-Situation, oder genauer gesagt: eine „Win-win-win“-Situation. Denn neben den Mitarbeitern und der Firma haben durch die längeren Öffnungszeiten ja auch die Kunden etwas davon. Aber nicht nur der hohe Norden, auch der ferne Süden ist ein leuchtendes Beispiel für die Vorteile kürzerer und flexiblerer Arbeitszeiten.

MACH MAL HALBLANG!

Die neuseeländische Fondsgesellschaft Perpetual Guardian testete im März des vergangenen Jahres die 4-Tage-Woche für alle 240 Mitarbeiter. Von 37,5 Stunden sollte die Arbeitszeit auf 20 Stunden reduziert werden – bei vollem Lohnausgleich. Das Ergebnis: „Die Produktivität stieg geringfügig an, der Stresslevel sank“, so der Geschäftsführer Andrew Barnes gegenüber einem neuseeländischen Rundfunksender. Begleitet wurde diese Testphase von einem Forscherteam der Auckland University. Einerseits, um etwaige Probleme bei der Belegschaft im Auge zu behalten. Andererseits, um dieses Modell im Rahmen einer ausführlichen Studie zu untersuchen, die schließlich Anfang dieses Jahres erschienen ist. Und die noch einmal aussagekräftiger als Barnes Statement ist, da sie auch den Zeitraum ab November 2018 untersucht hat.

Mit dem Gehalt alleine lockt man niemanden mehr. 

Klaus Hochreiter über die Veränderungen am Arbeitsmarkt 

Denn da wurde die 30-Stunden-Woche bei Perpetual Guardian fix eingeführt. Die Ergebnisse könnten eindeutiger nicht sein: Die Produktivität wuchs um 20 Prozent, die Gewinne des Unternehmens wurden damit gesteigert. Gleichzeitig sanken die Stresswerte der Beschäftigten von 45 auf 38 Prozent. Außerdem erwies sich die 4-Tage-Woche nicht zuletzt für die Beschäftigten mit elterlichen Verpflichtungen als besonders wertvoll, da schlicht und ergreifend mehr Zeit bleibt, sich der Kindererziehung und dem Haushalt zu widmen.

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Der Countdown bis zum Ende der starren 40-Stunden-Woche läuft.

VORBEREITUNG IST ALLES

Doch was nach dem beruflichen Schlaraffenland par excellence klingt, fällt nicht so ohne Weiteres vom Himmel. Im Gegenteil. Die 30-Stunden-Woche, so könnte man sagen, muss man sich hart erarbeiten. „Das Besondere bei dem Testlauf war, dass das Unternehmen nicht einfach gesagt hat: Freitag ist jetzt frei“, betonte die Arbeitssoziologin Helen Delaney von der Auckland Business School in einem Interview gegenüber der deutschen Wochenzeitung Die Zeit. „Die Teams entschieden selbstständig, wie sie ihre Arbeit organisieren und delegieren, sprachen sich ab, wer wann freihat – und entschieden, wer die Verantwortung übernimmt, wenn der Abteilungsleiter seinen freien Tag hat.“

Früher hatten wir im Schnitt zehn Bewerber pro Stelle, heute sind es 100.

Für Klaus Hochreiter war die 30-Stunden-Woche die Lösung für den Fachkräftemangel

Delaney spricht damit einen zentralen Punkt an. Es geht um eine ganzheitliche Vorbereitung, die erst im Konsens mit den Mitarbeitern ausgeführt werden kann und langfristig angelegt werden muss. Wer also nicht nur als Unternehmer, sondern auch als Arbeitnehmer kürzere und flexiblere Arbeitszeiten haben möchte, muss das akribisch vorplanen – wenn nötig sogar jahrelang. Das bestätigt auch Klaus Hochreiter, Geschäftsführer des Online-Marketing-Unternehmens eMagnetix im oberösterreichischen Bad Leonfelden.

BEWERBUNGSZAHLEN LÜGEN NICHT

Unter dem Motto #30sindgenug führte das Unternehmen mit 30 Mitarbeitern am 1. Oktober des vergangenen Jahres die 30-Stunden-Woche bei vollem Gehalt ein. Doch die ersten Gespräche mit den Mitarbeitern fanden bereits im Frühjahr 2016 statt. Der Grund für diese Maßnahme? „Bereits 2015 haben wir bemerkt, dass uns der Fachkräftemangel voll erwischt“, so Klaus Hochreiter, der erläutert: „Ausschlaggebend war schließlich eine Jobausschreibung, für die wir wochenlang keine einzige Bewerbung bekommen haben.

Ich habe daraufhin alles probiert. Habe die Ausschreibung beworben, das Gehalt ordentlich angehoben, sodass es deutlich über dem Branchendurchschnitt war. Es ist einfach nichts passiert. Da wussten wir: So geht’s nicht.“ Hochreiter beschäftigte sich daraufhin intensiv mit der Problematik des Fachkräftemangels und vor allem mit den Bedürfnissen der jungen Generation. „Einfach deswegen, weil das die primäre Arbeitsgruppe unserer Arbeitnehmer ist.“ Sie waren es auch, die Hochreiter letztlich im Rahmen verschiedenster Bewerbungsgespräche die Augen öffneten. „Da habe ich bemerkt: Mit dem Gehalt alleine lockt man niemanden mehr. Sondern mit Zeit, also Freizeit, sprich: Work-Life-Balance. Das sind offenbar die viel interessanteren Themen bei den Jungen.“

Der Grund für diesen allem Anschein nach zukunftsweisenden Trend ist laut Hochreiter ziemlich einfach: „Unsere Eltern und Großeltern haben uns einen gewissen Luxus erarbeitet. Jeder erbt etwas, jeder kriegt etwas. Wir sind nicht mehr so sehr auf das Materielle angewiesen wie sie. Das Statussymbol ist daher nicht mehr das Gehalt, sondern die Zeit.“

MUT ZU NEUEM

Im Rahmen der gut zweijährigen Vorbereitungen waren ausnahmslos alle Mitarbeiter beteiligt. Eine der großen Fragen war: Wie können die Prozesse optimiert werden? Und zwar so, dass die Qualität nicht nur gewährleistet bleibt, sondern bestenfalls sogar noch besser wird? „Wir haben das gesamte Unternehmen durchleuchtet“, sagt Hochreiter, „und dadurch unsere Prozesse optimiert. Für ein digitales Unternehmen wie unseres ging es vor allem auch darum, wo wir digitale Tools, also die Technik, einsetzen konnten, um diese Prozessoptimierungen zu erreichen. Wir haben das dann mehrere Wochen intern ausprobiert, das Ganze evaluiert und uns dann mit allen zusammengesetzt. Gemeinsam haben wir uns schließlich entschieden: Machen wir’s? Oder machen wir’s nicht?“

Manche glauben ja, da wird dann wie in einem Hamsterrad nur noch das Pensum abgearbeitet – das ist überhaupt nicht so!

Klaus Hochreiter über das entspannte und gleichzeitig produktive Klima bei exMagnetix

Dass die oberösterreichische Firma ihren akribischen durchgearbeiteten Plan umsetzte, ist nicht zuletzt dank mehrerer Medienberichte bekannt. Weniger bekannt ist, dass diese kühne Maßnahme stufenweise umgesetzt wurde. Per 1. Juni 2018 kam erst einmal die 34-Stunden-Woche, ab Oktober schließlich die mit 30 Stunden. Das Fazit? Im Jahr 2018 wurde der Umsatz um 40 Prozent gesteigert – und das, obwohl weniger gearbeitet wurde. Auch um die Bewerberzahlen muss sich Hochreiter keine Sorgen mehr machen. „Früher hatten wir im Schnitt zehn Bewerber pro Stelle, heute sind es 100.“

Neben all diesen Hardfacts gibt es aber auch subtilere, aber dennoch genauso ausschlaggebende Verbesserungen: „Die Leute sind viel zufriedener und ausgeglichener, viele bekommen das von ihren Familien gesagt. Und wenn man bei uns durchgeht, dann merkt man: Unsere Leute sind motiviert, sie haben einen Elan, da wird auch geredet und gelacht. Manche glauben ja, da wird dann wie in einem Hamsterrad nur noch das Pensum abgearbeitet, das ist überhaupt nicht so!“ Bei aller Zufriedenheit weiß Hochreiter: Die 30-Stunden-Woche war für sein Unternehmen die richtige Entscheidung, sie jedoch flächendeckend einzuführen, bringe gar nichts, so der versierte Unternehmer. „Letztlich geht es darum, dass unsere Maßnahme Unternehmen als Input dienen kann, etwas Neues auszuprobieren.“

Ob das gelingen wird, wird sich zeigen. Die Unternehmen der Zukunft jedenfalls werden keine Wahl haben. Der Countdown bis zum Ende der starren 40-Stunden-Woche läuft.

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