Das verkannte Genie Albert Adrià

Wie tickt der Bruder des legendären Ferran Adrià? Warum liebt Albert Adrià das Scheitern und warum munkelt die Branche aktuell, dass er in seinem Enigma in Barcelona eine neue Form von Magie auf den Teller bringt? Im großen Interview lässt der vielleicht unterschätzteste Koch der Welt tief blicken!
September 10, 2025 | Text: Nina Wessely | Fotos: Raphael Gabauer, Moitorne

Im Kosmos der Haute Cuisine fällt der Name Adrià meist unweigerlich auf Ferran – den visionären Kopf hinter elBulli, dem Tempel der kulinarischen Avantgarde. Doch wer genauer hinschaut, weiß, dass im Schatten dieses übergroßen Sterns ein weiterer leuchtet: Albert Adrià. Jahrzehntelang galt er als der stille Bruder, der Tüftler im Hintergrund, der Mann, der die Küche mit Süßem revolutionierte, während andere den Applaus erntete. Dabei hat dieser andere Adrià längst eine ganz eigene Spur in der Weltgastronomie hinterlassen – mit preisgekrönten Restaurants, wagemutigen Konzepten und einem unerschütterlichen Willen, die Grenzen des Geschmacks immer weiter zu verschieben.

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Heute ist Albert Adrià 55 Jahre alt und sagt: „Ich habe erst in der Pandemie gelernt, wie sich ein normales Leben anfühlt!“

Im Kosmos der Haute Cuisine fällt der Name Adrià meist unweigerlich auf Ferran – den visionären Kopf hinter elBulli, dem Tempel der kulinarischen Avantgarde. Doch wer genauer hinschaut, weiß, dass im Schatten dieses übergroßen Sterns ein weiterer leuchtet: Albert Adrià. Jahrzehntelang galt er als der stille Bruder, der Tüftler im Hintergrund, der Mann, der die Küche mit Süßem revolutionierte, während andere den Applaus erntete. Dabei hat dieser andere Adrià längst eine ganz eigene Spur in der Weltgastronomie hinterlassen – mit preisgekrönten Restaurants, wagemutigen Konzepten und einem unerschütterlichen Willen, die Grenzen des Geschmacks immer weiter zu verschieben.

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Heute ist Albert Adrià 55 Jahre alt und sagt: „Ich habe erst in der Pandemie gelernt, wie sich ein normales Leben anfühlt!“

Kurz gesagt: Albert Adrià ist kein Nebendarsteller, sondern ein Regisseur, der sein eigenes Stück geschrieben hat. Kürzlich feierte sein Enigma in Barcelona, die aktuelle Nummer 34 der 50 Best Restaurants, seinen dritten postpandemischen Geburtstag. Und das ist tatsächlich ein kleines Wunder, wie er selbst erzählt …

Albert, ganz ehrlich: Bist du in Wahrheit der unterschätzteste Koch der Welt?

Albert Adrià (lacht): Das haben Sie mich bei der Verleihung der „50 Best“ in Turin, nachdem ich den „Chefs Choice Award“ bekommen habe, auch schon gefragt. Ich habe das wirklich nie so empfunden. Ja, ich war der Pâtissier im elBulli, meines älteren Bruders Ferran Adrià. Vor allem aber war ich im „Taller“, der Ideenschmiede des elBulli. Danach ist nach und nach das Barri Adrià entstanden. Dabei habe ich mehrere Restaurants gleichzeitig organisiert und kreativ bespielt sowie bis heute 14 Bücher publiziert. Also nein, ich halte mich nicht für unterschätzt.

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Mitten im Herzen Barcelonas gelegen, treffen sich Sensibilität für Kulinarik und Architektur auf höchstem Niveau.

Bleiben wir bei deinen Restaurants – das waren zuletzt sechs Stück, aktuell ist nur noch das Enigma da. Was ist passiert?

Meine Geschäftspartner hat die Pandemie sehr hart getroffen. Sie hatten dann das Glück im Unglück, dass ihre Firma von einem Freund aufgekauft wurde. Das war aber für mich der Moment, an dem ich meinte, was das Barri Adrià betrifft, gehe ich in Pension.

Den Eindruck eines Gastro-Pensionisten machst du allerdings nicht ganz …

Nein (lacht). Es scheint das zu sein, was ich kann: die Gastronomie. Die Liebe dafür kannst du nie verlieren. Meine Frau Silvia und mein Sohn Alex sehen das mit einem lachenden und einem weinenden Auge.

In der Pandemie habe ich zum ersten Mal mitbekommen, wie ein normales Leben funktioniert, wie das aussieht. Ich kannte das nicht, ich habe mit 15 Jahren im elBulli angefangen und seither nur für den Beruf gelebt. Plötzlich bin ich jetzt 55 Jahre alt … Jedenfalls hab ich beiden in der Pandemie versprochen, dass ich nicht mehr abends arbeiten werde, dass ich diese unglaublich hohe Intensität etwas herunterfahre.

Ich rate einmal: Aus diesem Plan wurde nichts?

Im ersten Anlauf nicht. Das war aber aufgrund der zuvor schon erwähnten finanziell schwierigen Situation nicht anders möglich. So aber ist es mir gelungen, binnen zwei Jahren das erste Mal in meinem Leben alle meine Investitionen wieder hereinzuholen. Wenn du mich also nach einem Plan für die Zukunft fragst, antworte ich dir mit einem privaten Plan: Ich werde mir mein Traumhaus bauen, mit Pool und Hund und allem!

Aktuell stehst du aber noch nicht im Traumhaus, sondern in deiner Küche. Ist das heute nur Arbeit für dich oder doch noch mehr Liebe?

Die Liebe liegt im Moment der Kreativität. Da ist die Liebe. Das andere ist dann, wie es auch in jedem anderen Job ist: Hier kommen Routine, Erfahrung und Präzision zum Tragen, damit nichts schiefgeht.

Und das ist dir nach 40 Jahren nicht zu blöd?

Sagen wir so: Wenn du dich frisch verliebst, ist das ein sehr schönes Gefühl von Liebe. Und nach zehn Jahren Beziehung ist es immer noch Liebe, aber eben anders.

«Zu scheitern ist in Wahrheit lebenswichtig!»

Aber für eine lange Beziehung braucht es mehr Faktoren als bloß Liebe, oder?

Ich denke ans Team und fühle mich Enigma ­gegenüber irgendwie verpflichtet. Die allermeisten aus dem alten Barri Adrià sind bei mir geblieben. Das gibt mir viel Kraft. Und wir sind seit drei Jahren immer ausreserviert. 80 Prozent unserer Gäste kommen aus dem Ausland, auch das treibt mich an. Leute kommen, weil sie etwas Außergewöhnliches erleben wollen.

Etwas außergewöhnlich Kreatives?

Wir alle sprechen immer von Kreativität. Dabei gibt es vielleicht fünf wirklich Kreative auf der Welt. Der Rest von uns, wir drehen nur Runden. Lassen uns inspirieren, und das ist auch gut so. Wobei bei uns im Enigma schon so sieben bis acht Dinge entstanden sind, die es in dieser Form nirgendwo sonst auf der Welt gibt. Das macht mich stolz.

Hast du kein Problem damit, dass dank Insta­gram und Co alles gleich kopiert wird?

Mit den sozialen Medien sind wir längst eng zusammengerückt, sehen auch die Vorteile, die sie bieten. Dennoch muss ich feststellen, dass die Erfahrungen in den Restaurants durch diese Medien vorhersehbarer geworden sind. Eines aber wird sich nie ändern: Wenn du wissen willst, was ein Koch macht – dann kostest du es im Original, um es zu verstehen, oder du hast eben nur ein hübsches Bild. Das ist ein Unterschied.

«Wir erklären nichts mehr, das macht uns frei!»

Wir können jetzt nicht alle Leser zu dir einladen. Also: Kannst du zumindest versuchen zu erklären, wie es im Enigma schmeckt?

Natürlich (lacht). Wir orientieren uns viel mehr am Produkt als in den Jahren zuvor. Wir haben einen genauen Kalender von allen Produkten, die wir verwenden. So hat die Tomate zum Beispiel von 15. Juli bis 20. Oktober Saison. Etwa zwei Wochen bevor das Produkt ausläuft, ändern wir das Menü. Und wir versuchen natürlich mit jedem Menü, mit jedem Gericht, einen weiteren Schritt in Richtung Exzellenz zu gehen. Ich bin nicht mehr der gleiche Albert wie vor der Pandemie. Es gibt einen Spruch, der heißt: „Einer ist, wie er kocht, und er kocht, wie er ist.“

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Sieben bis acht Dinge habe Albert Adrià im Enigma auf den Teller gebracht, die es sonst nirgendwo auf der Welt in dieser Form gibt. Darauf ist er stolz, sagt er.

Der Albert von heute ist also produktorientierter? Was ist er sonst noch?

Ich frage mich heute viel mehr: Was müssen wir nicht tun? Statt: Was müssen wir tun? Ich brauche keine geometrischen Formen mehr, es muss nichts mehr hübsch aussehen. Worum ich mich jetzt kümmere, ist der Geschmack, und da fällt die Textur selbstverständlich mit hinein. Damit habe ich immer schon gerne gespielt. Ich koche wieder viel mehr als zu Zeiten des Barri Adrià, und das bereitet mir große Freude. Wenn man so will, sind wir brutalistischer geworden. Und: Wir erklären nichts mehr. Das gibt uns viel mehr Freiheit.

Gleichzeitig werden die Stimmen immer lauter, die sagen: Was jetzt im Enigma passiert, ist echte Gastrozauberei …

Das hört man natürlich gerne. Vor Kurzem hat ein bekannter Journalist, der unsere Arbeit wirklich gut kennt, am Ende des Menüs zu weinen begonnen. Und er hat dann so schöne Dinge geschrieben, dass ich selbst auch fast hätte weinen müssen. Im alten Enigma hatten wir einen sehr ambitionierten Plan. Auch damals wollten wir eine echte Erfahrung bieten. Das ist leicht gesagt, aber alle bieten Erfahrungen. Sie einzigartig zu machen, das ist sehr schwer. Vor der Pandemie waren wir ­irgendwie Gefangene unserer eigenen Idee, unserer eigenen Vorstellung von Exzellenz. Wir hatten eine Vision, diese aber umzusetzen, ist so schwer, dass uns die Leichtigkeit dabei verloren ging.

Ihr bietet jetzt also keine Erfahrung mehr?

Natürlich, aber wir haben uns von vielen Zwängen befreit. Im gleichen Menü verwenden wir verschiedenste Zugänge. Manchmal dominiert die Technik. Dann ist es wieder das Produkt, und die Qualität dieses Produkts, die wir in den Fokus stellen. Immer aber steht der Geschmack an erster Stelle.

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Albert Adrià hat seiner Küche nicht nur geschmacklich eine brutalistische Note verpasst. Auch in ihrer gesamten Ausrichtung ist alles kompromissloser denn je.

Das ist also das schlichte Geheimnis hinter exzellenter Küche?

Es heißt oft, die einfache Küche, das ist die wahre Kunst. Das ist natürlich so nicht wahr. Das ist einer der Gründe, warum ich nicht gerne über meine Küche spreche, das sollen andere machen. Aber natürlich stecken in unseren Gerichten unglaublich viele Details, noch mehr Arbeit und tiefes Wissen.

Und dennoch schmeckt es einfach gut. Es berührt vielleicht durch seine vermeintliche Einfachheit, in Wahrheit aber vor allem dank unseres Produktwissens und die Qualität der Lebensmittel, die wir verwenden. Das Wissen um diesen Zusammenhang, so eine Beobachtung von mir, ist in der letzten Zeit etwas verloren gegangen.

Was die nächste Generation an Köchinnen und Köchen betrifft?

Ja, ich habe schon den Eindruck. Immer weniger wissen, wie man gut einkauft. Und damit meine ich die Qualität des Produkts betreffend und auch die richtige Relation zum Preis. Denn das darf man auch nie aus den Augen lassen: Ein Restaurant ist ein Business!

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Hierbei interpretiert Albert Adrià die klassische französische Zubereitungsweise der Duxelle durch moderne Konfit- und Grillaromen neu. Nicht nur optisch ein Bringer!

Eines, das nicht immer erfolgreich ist, wie du selbst erlebt hast …

Ja, und es ist auch genauso wichtig zu scheitern. Wir schauen uns immer nur die zwei Prozent derjenigen an, die es schaffen. Gleichzeitig aber wissen wir, wie viele Restaurants aktuell schließen. Das ist wie bei der Geburt eines Menschen: Bei der Geburt feiert man eine Woche. Wenn man stirbt, gibt es mit Glück nur eine Zeile in der Zeitung. Wenn ein Restaurant schließt, ist es oft nicht einmal das.

Es ist fundamental, zu scheitern. Wenn du keine Fehler begehst, lernst du nichts. Nur ist es ein Unterschied, ob du Öffnungszeiten, Konzept und Menü optimierst, oder ob du eine Hypothek auf das Haus deiner Eltern aufnimmst.

Das ist also dein Rat an die nachkommende Generation: Lernt scheitern?

Ja, aber richtig. Und: Habt keine Angst! Jeder von uns scheitert. Leidenschaft zu haben, ist essenziell. Diese sei aber immer begleitet von Demut und Sanftheit. Es ist heutzutage schwerer, ein Lokal zu führen: Die Kosten sind massiv gestiegen, die Arbeitssituation, was Überstunden betrifft, macht es schwierig, flexibel zu bleiben.

Bei all den Schwierigkeiten ist es wichtig, keine Angst zu haben. Denn es ist nun einmal so – diese Liebe zur Gastronomie lässt sich nicht abdrehen. Es ist traurig, wenn jemand aus Angst dieser Liebe nicht folgt.

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