Der Hochbegabte

Norbert Niederkoflers Definition von Regionalküche nennt sich „Cook the Mountain“ und beginnt an der Baumgrenze der Dolomiten. Südtirols bester Koch über kulinarisches Bergwerken auf Sterneniveau, Sinn und Sinnlichkeit – und die Zukunft unserer Kinder.
November 13, 2015

Norbert Niederkoflers Cook the Mountain Konzept

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Fotos: Helge O. Sommer, Shutterstock

php01hC9jNorbert Niederkofler steht in weißer Küchenschürze vor dem Eingang des Relais & Châteaux Alpina Rosa im südtirolerischen St. Kassian und lacht dieses herzliche, tiefe, ehrliche Lachen, das seit 20 Jahren durch das kleine Hotel, eingebettet zwischen den imposanten Berggipfeln von Lavarella, Conturines und Lagazuoi, hallt. Sein Händedruck ist fest, die Handflächen rau, zur Begrüßung sagt er: „Ihr seids aber spät dran!“ Meinem halb panischen, halb verwirrten Blick…

Norbert Niederkoflers Cook the Mountain Konzept

Fotos: Helge O. Sommer, Shutterstock

Norbert NiederkoflerNorbert Niederkofler steht in weißer Küchenschürze vor dem Eingang des Relais & Châteaux Alpina Rosa im südtirolerischen St. Kassian und lacht dieses herzliche, tiefe, ehrliche Lachen, das seit 20 Jahren durch das kleine Hotel, eingebettet zwischen den imposanten Berggipfeln von Lavarella, Conturines und Lagazuoi, hallt. Sein Händedruck ist fest, die Handflächen rau, zur Begrüßung sagt er: „Ihr seids aber spät dran!“ Meinem halb panischen, halb verwirrten Blick auf die Armbanduhr entgegnet er mit einem breiten Grinsen. „Kleiner Scherz“, schiebt er hinterher.
Niederkofler gibt das Kommando an uns, zu entspannen. Er muss jetzt zuerst einmal „was kochen“, dann können wir das Shooting machen, sagt er. Spricht’s, lacht, dreht sich um, verschwindet in der Küche. Damit wären nach nur zwei Minuten zwei Dinge klar: Norbert Niederkofler ist ein Mann mit Humor. Und ein Freund klarer Ansagen.

Was Niederkofler an diesem Tag kocht, ist für jene rund 50 Gäste und sieben internationale Spitzenköche gedacht, die der 52-jährige Träger von zwei Michelin-Sternen und 19 Gault-Millau-Punkten am frühen Abend in seinem Restaurant St. Hubertus erwartet. „Cook the Mountain“ heißt Niederkoflers kulinarisches Bergabenteuerevent, an dem Köche teilnehmen, die, wie Niederkofler sagt, „mit vergleichbaren Ressourcen in vergleichbaren Höhenlagen wie wir hier arbeiten.“ Der Chilene Rodolfo Guzmán etwa, der mit seiner endemischen Wald- und Wiesenküche aktuell Platz acht der Latin-America’s-50-Best-Restaurants-Liste belegt. Oder der Peruaner Virgilio Martínez, Küchenchef des Restaurants Central in Lima, dessen Gerichte Namen wie „Lamm, wilder Senf und schwarze Quinoa auf 3900 Metern“ tragen. Oder Eleonora Cunaccia, die Bergkräuter-Foodhunterin aus dem Trentino, die für den bevorstehenden ersten Abend des Events die kargen Berghänge der umliegenden 3000er nach Berg-Portulak, römischem Sauerampfer und Spargelsalat für Rodolfo Guzmán absucht.

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Sinnvoller Höhenrausch

„Cook the Mountain“ heißt seit 2012 auch Norbert Niederkoflers neue Küchenlinie im Gourmetrestaurant St. Hubertus, mit der er das kulinarische Erbe der Dolomiten wieder zum Leben erwecken und Südtirol eine neue Fine-Dining-Identität geben will. Dass er den Schritt weg von der austauschbaren kulinarischen Bedürfnisbefriedigung seiner internationalen Klientel mit Gänsestopfleber und Seezunge hin zu Graupenrisotto und Latschenkiefernhippen wagte, daran hatten auch die Südamerikaner einen kleinen Anteil, sagt er. „Die haben großartige Produkte, eine geniale Küche, aber was viel wichtiger ist: Sie sind hungrig auf Neues, sie haben einen Drive, der vielen Köchen in Europa fehlt. Die Köche der Alten Welt haben aufgehört, zu hinterfragen, was sie da eigentlich tun. So wollte ich nicht weitermachen.“
Vor fünf Jahren fing Niederkofler, der sein Handwerk bei Fine-Dining-Granden wie Eckart Witzigmann in München und David Bouley in New York perfektionierte und nach seiner Rückkehr in die Heimat in den frühen 90er-Jahren aus der einstigen Pizzeria des Alpina Rosa ein vielfach ausgezeichnetes Spitzenrestaurant machte, an zu zweifeln. An der Sinnhaftigkeit, kiloweise Austauschbares zu verarbeiten und gedanken- wie aufwandslos bei Großhändlern zu bestellen. „Wenn du die Augen zumachst und in eine Stopfleber beißt, die du genauso gut in Tokio oder London bekommst, welchen Grund hast du dann, hierher zum Essen zu kommen?“, fragt er. „Siehst du! Es gibt keinen! Aber Kutteln! Kutteln, so wie sie hier schon seit Jahrhunderten gemacht werden, das ist ein Grund!“

Wir sind mittlerweile mit Niederkofler in der Küche angekommen. Roland Trettl, ebenfalls zur Veranstaltung geladen, ist auch früher dran, er hat selbst gemachten Käse mitgebracht. Die Begrüßung zwischen den beiden fällt herzlich aus. Man kennt sich, man schätzt sich, man mag sich. Trettl geht eine Runde joggen, Niederkofler checkt den Zustand der Kutteln, die am Abend als „Saure Suppe St. Hubertus“ über den Pass wandern werden.

50 Komponenten? Das ist doch uncool.
Die bekommst du doch nie im Leben perfekt auf alle Teller!
Norbert Niederkofler über Komponentenorgien als Fehlerquelle.

 

Die Geburt seines Sohnes vor vier Jahren habe endgültig seinen Blick auf das eigene Tagewerk verändert, sagt er dann. „Da kam der Gedanke: Verdammt, wir sollten irgendetwas dalassen, den jungen Leuten eine Vision geben. Nicht nur vom Essen, sondern auch von der Landwirtschaft der Zukunft, der Lebensmittelproduktion. Wenn wir nicht bewahren, was wir hier an Voraussetzungen für nachhaltiges Produzieren und Konsumieren haben, dann haben wir verloren. Dann sind wir Idioten.“

Im Ganzen – oder gar nicht

Fünf Jahre nahm Niederkofler sich Zeit, seine Idee der Alpinküche Form annehmen zu lassen. Die Stunden, die er bei Lieferanten im Hof, im Stall, im Garten stand, diskutierte, reflektierte, grübelte, gehen in die Tausende, sagt er. Der schwierigste Teil der Übung bestand darin, Vertrauen aufzubauen, den Bauern zu verdeutlichen, welche Qualität Niederkofler sich erwartet, und Bedingungen zu schaffen, die für alle Beteiligten fair sind. „Wenn du den Zwischenhandel ausschaltest und den Bauern einen guten Preis zahlst – das ist fair“, sagt er. „Und am besten kommt man den Produzenten entgegen, wenn man ihnen nicht nur ein Filetstück abnimmt, sondern das ganze Tier, und das Gemüse dann, wenn es Saison hat und genug davon da ist. Was ich dann mit 20 Kilo Tomaten mache, ist mein Problem. Oder sagen wir: meine Herausforderung.“

Und die Herausforderung für Niederkoflers Küchencrew, die sich erst mit Nose-to-Tail-Verarbeitung & Co. anfreunden musste. „Die müssen natürlich wissen, wie sie das Tier zerlegen, welche Teile sie wie verarbeiten können, aber das ist doch für die Jungen viel spannender und wertvoller, als einfach nur hirnlos Steaks zu braten!“ Überhaupt hat sich die Küchenarbeit im Alpina Rosa seit Niederkoflers Bekenntnis zu kulinarischem Alpinismus stark verändert. Wenn man das Wort „Fermentation“ in seiner Nähe fallen lässt, huscht ihm ein Lächeln übers Gesicht. „Ja, eigentlich ist das ja schon lustig“, sagt er, „dass eine Technik, die so alt ist, jetzt gerade so gehypt wird. Wir könnten ohne diese Haltbarmachungstechniken hier gar nicht kochen. Im Sommer muss ich die Vorratskammern füllen und mir überlegen, wie ich über den Winter komme.“ Vordenken und planen, darum dreht sich fast alles in Niederkoflers Küche.

Natur-Talente

Was der Südtiroler von seiner achtköpfigen Stammcrew und den zahlreichen Praktikanten verlangt: Interesse, Engagement und Respekt. Letzteres übrigens nicht in allererster Linie nur vor ihm. Er hält seine Köche an, nachzudenken, wie die Natur ihnen ein Produkt präsentiert. „Und dann müssen sie sich fragen: Wie krieg ich das so auf den Teller, dass es möglichst nahe an der Natur ist?“ Mit hochalpinem Wurzel- und Flechtenwerk zu arbeiten, mit Kräutern und alten Gemüsesorten bedeutet vor allem, zurück zum Handwerk zu gehen und der Technikversessenheit vergangener Tage den Kampf anzusagen. Von 50 Komponenten am Teller hält Niederkofler nichts, seine Gäste sollen sich konzentrieren dürfen. Drei authentische, unverfälschte Geschmäcke in Harmonie miteinander zu bringen, das sei die wahre Challenge. „Unsere Rote-Bete-Gnocchi mit Biererde und Daikon-Creme zum Beispiel, das ist eines der geilsten Gerichte überhaupt. Genial! Ganz klare Aromen, süß, scharf, erdig!“ Oder das Gerstenrisotto mit Ziegenbutter, Bergkräutern und Zitronenverbengelee. „Wenn du das Gericht anschaust, dann sieht das gar nicht so spektakulär aus, aber es überrascht dich unendlich. Ich sag nur: Zitronenverbene!“

Es ist eigentlich völlig egal, was man macht.
Hauptsache, man macht es richtig gut.
Norbert Niederkofler über seine Idee von kulinarischer Aufgeschlossenheit

 

Aber Zitronenverbene hin oder her: Nicht alles, was grün ist, ist auch gut, sagt Niederkofler, „und nur weil es ein seltenes Kraut ist, muss ich es nicht verwenden“. Und auch nicht alles, was aus einem Umkreis von 20 Kilometern stammt, ist wertvoll. „Bin ich ein Vertreter der Slow-Food- und Radius-Amtskirche? Sicher nicht!“, betont er. „Das finde ich nicht ehrlich. Wenn ich tollen Fisch aus Österreich oder etwas Besonderes aus den Schweizer Bergen bekomme, dann nehme ich das. Alles andere ist Unsinn.“
Nach zwei Jahren „Cook the Mountain“ ist Niederkofler jedenfalls überzeugt vom Sinn seines Projektes, wie er seine Küchenlinie selbst oft bezeichnet. Stolz ist er auf seinen aktuellen Wareneinsatz, der jetzt unter 30 Prozent liegt, und er freut sich über die positiven Stimmen der Kritiker, die Bauernbratl vom Wipptaler Lamm, fermentiertem schwarzen Knoblauch und in Erde gekochte Kartoffeln („Das ist ganz einfach, du nimmst Gartenerde, füllst sie in einen Topf, gräbst die Kartoffeln ein und dann lässt du das im Holzofen fertig garen!“) genauso zu schätzen wissen wie ehemals Kaviar und Wolfsbarsch.

Der dritte Michelin-Stern schwebt schon sehr nah am Eingangsportal des St. Hubertus, aber der kulinarische Alpenrebell hat die Ruhe weg. „Wenn es für den dritten Stern reicht: super. Aber in erster Linie muss ich zufrieden sein. Ich werd keinen dreifachen Salto auf dem Teller machen, nur um den Kritikern zu gefallen.“
Die Küchentüre fliegt auf, Eleonora Cunaccia, die Kräuterfee, biegt beladen mit zwei riesigen blauen Kisten ums Eck. Die Begrüßung zwischen den beiden fällt herzlich aus. Man kennt sich, man schätzt sich, man mag sich. Eleonora hat Guzmáns Kräuter dabei. Deckel fliegen auf, die halbe Küche versammelt sich zur geschmacklichen Durchforstung des Dickichts. Philipp Fallmerayer, Niederkoflers rechte und linke Hand in der St.-Hubertus-Küche, schlägt seine Zähne in etwas, das, wie man an seinem verzogenen Gesicht ablesen kann, alles andere als kulinarisch wertvoll ist.

„Siehst!“, sagt Niederkofler, und lacht wieder dieses herzliche, tiefe, ehrliche Lachen. „Was hab ich dir vorher gesagt? Nicht alles, was grün ist, ist auch gut. Sinn muss es machen!“

www.rosalpina.it

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