Avantgarde-Küche: Quo vadis?

Rauchende Köpfe, ausgelassene Stimmung und beinharter Schlagabtausch: Wie und warum die molekulare Revolution alles verändert hat, haben unsere Experten analysiert.
November 13, 2015

phpujalE8Fotos: Monika Reiter

 

1) Jürgen Mann Gesellschafter von Hampp Media, die Techniken und Hilfsmittel aus der Molekularküche Ferran Adriàs vertreibt
2) Sonja Obermeyer Geschäftspartnerin von Giuseppe Messina im gemeinsamen Restaurant Pasta Vino
3) Rolf Caviezel Begründer der ersten Schweizer Plattform für Molekularküche und Inhaber der Firma freestylecooking GmbH
4) Helmut Jungwirth Wissenschaftlicher Leiter: Offenes Labor Graz und Geschmackslabor Graz
5) Dieter Cramer Eigentümer und Geschäftsführer der Firma Hutterer Gastronomiemaschinen. Gastroausstatter und Küchenplaner
6) Peter Zinter Projektleiter in Brian Pattons Culinary Love Band. Kochte im Vincent in Wien 17 Gault-Millau-Punkte
7) Renate Schnutt Digital Media & Event Managerin bei iSi Kulinarik
8) Giuseppe Messina Inhaber Restaurant Pasta Vino. Leitet Workshops für Texturas, unter anderem auch im Tickets von Albert Adrià

Was hat die einst so spannende wie spektakuläre Show mit Sphären, Stickstoff und Co. eigentlich gebracht? Was ist vom Hype geblieben?
Rolf Caviezel (3):
Der Hype ist bei uns in der Schweiz nicht stehen geblieben, er kommt erst. In den Berufsschulbüchern wird etwa nicht mehr die Fritteuse abgebildet, sondern der Rotationsverdampfer.
Renate Schnutt (7): Man hat den Respekt vor der Technik verloren. Das heißt,…

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Fotos: Monika Reiter

 

1) Jürgen Mann Gesellschafter von Hampp Media, die Techniken und Hilfsmittel aus der Molekularküche Ferran Adriàs vertreibt
2) Sonja Obermeyer Geschäftspartnerin von Giuseppe Messina im gemeinsamen Restaurant Pasta Vino
3) Rolf Caviezel Begründer der ersten Schweizer Plattform für Molekularküche und Inhaber der Firma freestylecooking GmbH
4) Helmut Jungwirth Wissenschaftlicher Leiter: Offenes Labor Graz und Geschmackslabor Graz
5) Dieter Cramer Eigentümer und Geschäftsführer der Firma Hutterer Gastronomiemaschinen. Gastroausstatter und Küchenplaner
6) Peter Zinter Projektleiter in Brian Pattons Culinary Love Band. Kochte im Vincent in Wien 17 Gault-Millau-Punkte
7) Renate Schnutt Digital Media & Event Managerin bei iSi Kulinarik
8) Giuseppe Messina Inhaber Restaurant Pasta Vino. Leitet Workshops für Texturas, unter anderem auch im Tickets von Albert Adrià

Was hat die einst so spannende wie spektakuläre Show mit Sphären, Stickstoff und Co. eigentlich gebracht? Was ist vom Hype geblieben?
Rolf Caviezel (3):
Der Hype ist bei uns in der Schweiz nicht stehen geblieben, er kommt erst. In den Berufsschulbüchern wird etwa nicht mehr die Fritteuse abgebildet, sondern der Rotationsverdampfer.
Renate Schnutt (7): Man hat den Respekt vor der Technik verloren. Das heißt, dass sich mehr Personen damit auseinandersetzen und sich auch mehr zutrauen.
Peter Zinter (6): Das ist meiner Meinung nach aber eine schlechte Entwicklung. Die Jugend soll zuerst einmal Grundwissen erlernen, bevor sie herumzuspielen beginnt.
Dieter Cramer (5): Das Problem ist, dass die Leute ja schon mit einem Pacojet überfordert sind, wie sollen sie denn dann mit einem Rotationsverdampfer klarkommen?
Giuseppe Messina (8): Wer sich interessiert, der bildet sich weiter, und der, der nicht will, bleibt stehen.
Zinter (6): Aber ein Rotationsverdampfer ist nun doch wirklich etwas, was sehr selten jemand hat.
Caviezel (3): Das stimmt nicht! Die kommen immer mehr. Vor allem in Spanien haben sich Rotationsverdampfer schon verbreitet durchgesetzt.
Jürgen Mann (1): Ich könnte die Frage nach dem Hype ganz banal beantworten: Wir haben die Umsätze mit den Texturas vor allem in den letzten Jahren steigern können. Der Hype der Presse, die teilweise gar nicht wusste, wovon sie da schreibt, hat sich natürlich gelegt. Was sich aber durchgesetzt hat, ist, dass sich die Küche heute mit Kochtechniken ganz anders auseinandersetzt, als sie das noch vor 20 Jahren getan hat. Und viele Techniken sind von der Spitze der Pyramide auch schon weiter unten angekommen. Ich bin der Meinung, dass das auch weitergeht. Der Hype ist also nicht mehr so wahrnehmbar, aber er hat sich definitiv im Alltag etabliert.

Wie sieht es jedoch mit der Alltagstauglichkeit dieser Produkte und Techniken aus?
Helmut Jungwirth (4):
Aufwendig wird es immer dann, wenn man sich im Alter damit auseinandersetzen muss. Soll heißen: Wenn wir diese Techniken in die Ausbildung bringen, dann kann der junge Mensch entscheiden, ob er damit weiterarbeiten möchte oder nicht. Aber in jedem Fall tut man sich eben viel leichter, wenn man schon früh in Kontakt mit neuen Möglichkeiten kommt. Natürlich ist es schwierig für jemanden, der schon einen fixfertigen Betrieb hat, sich bei laufendem Geschäftsalltag nebenher intensiv mit einem Rotationsverdampfer auseinanderzusetzen. Es gilt daher, junge Menschen dafür zu begeistern, dann wachsen sie schon damit auf und können bei Interesse darauf zurückgreifen.
Cramer (5): Zum Thema neue Technologien und Jugend gibt es aber leider das klassisch österreichische Beispiel: Gleich um die Ecke von unserem Unternehmen in Wien liegt die Tourismusschule Modul, die als eine angebliche Top-Ausbildungsstätte für die Gastronomie in Österreich gilt. Ich versuche nun seit mittlerweile sieben Jahren, den Verantwortlichen dort zu erklären, dass man für eine fundierte zeitgemäße Ausbildung zumindest auch ein Sous-vide-Gerät braucht. Ich schaffe es nicht! Die sagen dort: Ich bin zu alt, ich stelle mich nicht mehr um.
Sonja Obermeyer (2): Wir hatten einen Praktikanten bei uns im Betrieb, der musste in seiner Schule ein Referat über unsere Kochtechniken abgeben und hat dafür einen Sechser bekommen. Aber ganz einfach deswegen, weil der Lehrer keinen Tau von der Materie hatte.
Messina (8): Es geht ja darum: Wir wollen, dass der Beruf sich immer weiterentwickelt. Und für Fortschritt beim Kochen muss man ganz einfach eine Evolution hinnehmen. Wenn man jedoch immer sagt: „Hey, das haben wir schon seit jeher so gemacht“, dann geht da natürlich nichts weiter. Junge Menschen möchten sich ja auch mit etwas identifizieren, etwas Cooles sowie Neues sehen und lernen. Ein Rotationsverdampfer interessiert doch bestimmt mehr Leute als die hunderttausend Fertigprodukte, die es eh überall gibt.

phpujalE8Fotos: Monika Reiter

Nach wie vor gibt es ja weitläufig eine falsche Vorstellung von Avantgarde-Küche. Herr Mann, Sie kommen durch Ihre Tätigkeit viel herum: Begegnet einem da auch viel Abneigung?
Mann (1):
Es gibt viele Vorurteile und eine große Antipathie gegenüber der Materie. Vor allem ältere Semester tun sich extrem schwer, mit den neuen Themen klarzukommen. Die letzten 10.000 Jahre haben Köche nach dem Trial-and-Error-Prinzip gearbeitet, jetzt haben manche anscheinend Angst, sich etwas von Physikern und Chemikern erklären zu lassen. Nur als Beispiel: Wenn ich bestimmte Texturen verwende, darf ich eben nur exakt 0,8 Gramm nehmen. Damit haben viele Köche schon ein großes Problem, weil sie sonst nach Gefühl kochen.
Zinter (6): Man kann das aber bis zu einem gewissen Grad schon verstehen. Ich finde, diese Methoden verleiten junge Köche dazu, nach Optik und nicht nach Geschmack zu kochen. Da liegt es dann vor allem an uns selbst oder an jenen, die ausbilden, etwas zu ändern. Meiner Meinung nach ist es viel wichtiger, sich zuerst einmal mit Aromen zu beschäftigen. Alle anderen Techniken sind nette Gimmicks.
Messina (8): Aber das ist meiner Meinung nach sowieso ein absoluter Grundsatz: Wenn es dem Gast nicht schmeckt, kommt er nicht wieder!
Caviezel (3): Ganz klar. Man muss die Basis draufhaben, sonst kann man nicht darauf aufbauen. Erst dann gilt es, die Geräte zu beherrschen. Richtig rund wird es erst dann, wenn man alte mit neuen Techniken perfekt kombinieren kann.
Zinter (6): Ich geb’s ja zu: So eine Sauce hollandaise aus einer iSi-Flasche ist richtig gut. Und praktisch, weil man es nicht die ganze Zeit aufschlagen muss.

Welche Technik wird sich in den kommenden Jahren auch in der breiten Gastronomie etablieren?
Cramer (5):
Der Rotationsverdampfer hat durchaus das Potenzial, Standard in den Küchen zu werden. Allerdings nur dann, wenn er preislich auf ein Niveau kommt, das vertretbar ist, also in der Größenordnung von einem Pacojet.
Caviezel (3): Die Zentrifuge. Die modernistische Küche klärt damit Flüssigkeiten ebenso rasch wie gründlich und trennt Fett von einem Fond ab.

Sind die verschiedensten Techniken aus der Avantgarde-Küche nur für Fine-Dine-Restaurants interessant oder doch auch in der allgemeinen Gastronomie umsetzbar?
Mann (1):
Ich habe da ein ganz einfaches Beispiel, wo ein Kunde aus der Firmengastronomie von normalen Bindungsarten seiner Sauce auf Xantana umgestellt hat. Der macht in der Woche 2500 Liter Sauce und spart sich jetzt damit im Jahr 20.000 Euro.
Schnutt (7): Da fällt mir spontan Alexander Kumptner ein, der in der Albertina Passage an guten Abenden an die 400 Gäste bekocht. Da muss es sehr schnell gehen und er würde ohne technische Hilfsmittel wie iSi-Flaschen an die Grenzen des Machbaren stoßen.

Wo wird die Reise hingehen und welche Produkte sowie Techniken werden uns in Zukunft den Alltag erleichtern?
Mann (1):
Ich kann nicht sagen, welche neuen Errungenschaften da noch so auf uns zukommen, aber ich weiß, dass die Techniken der letzten Jahre noch viel mehr in die Breite gehen müssen! Und ich bin fest der Meinung, dass die unterschiedlichen Länderküchen wie etwa die peruanische sich diese Techniken zu eigen machen werden und ganz tolle neue Gerichte daraus entstehen können.
Schnutt (7): Ich bin nicht der Meinung, dass es immer um die breite Masse gehen muss. Es gibt 1000 Nischen, wie die vegane Küche oder TCM-Küche, wo neue Techniken auch neue Geschmackserlebnisse garantieren.

Wird die Avantgarde-Küche noch über Jahre hinweg Bestand haben oder gibt es da ein Ablaufdatum?
Jungwirth (4):
Avantgarde stammt ursprünglich aus der französischen Militärsprache und bezeichnet die Vorhut, also den Truppenteil, der als Erstes vorrückt und somit zuerst Feindberührung hat. Avantgarde-Köche sind also die, die an den Tellerand gehen und riskieren, darüber hinausschreiten und an die Grenzen gehen. Alle anderen müssen sich einfach von den Leistungen und Visionen dieser kreativen Vordenker die besten Rosinen herauspicken und auf ihren Küchenalltag ummünzen. Das heißt aber auch, dass Avantgarde-Küche immer die derzeit aktuelle Küche ist, die, die an der Spitze steht. Das Jetzt.

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