Mister Herman macht sich frei

Gefürchtet und verehrt, wahnsinnig und virtuos: Sergio Herman trägt auf dem Höhepunkt seines Ruhms sein erstes Lebenswerk zu grabe. Allerdings nicht, ohne gleichzeitig seine Wiedergeburt einzuleiten.
November 13, 2015

Mister Herman macht sich freiFotos: Peter Paul de Meijer, Tony Le Duc

Drei Minuten wird es dauern. Drei Minuten, bis in der Küche des Oud Sluis für einige wenige Augenblicke wieder nur das Geklapper von Töpfen und das dumpfe Tok-tok-tok eines Kugelschreibers, der am Pass im perfekten Rhythmus auf einen Notizblock niedersaust, zu hören sein wird. Für den schmächtigen Commis, der den Parmesanchip für das dritte Amuse-Bouche vergessen hat, werden es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die drei längsten Minuten seines Lebens werden. Denn Sergio Herman ist sauer. So sauer, dass er seinen Kontrollposten am Pass während des Service aufgibt, sich durch das hektische 18-köpfige Gemensche zum Vergesslichen durchkämpft und ihm 90 Sekunden lang dieselbe Frage ins Gesicht brüllt: „Why did you forget it??!!“ Der junge Mann, der bis zu diesem Zeitpunkt zumindest noch eine kleine Chance auf eine Karriere in einer der besten und mit Abstand härtesten Küchen Europas hatte, ist zu Eis erstarrt. Irgendwann, etwa bei der Halbzeit, würgt er dann – man möchte sagen endlich – ein kaum hörbares „Sorry“ hervor. Guter Ansatz, trotzdem…

Mister Herman macht sich freiFotos: Peter Paul de Meijer, Tony Le Duc

Drei Minuten wird es dauern. Drei Minuten, bis in der Küche des Oud Sluis für einige wenige Augenblicke wieder nur das Geklapper von Töpfen und das dumpfe Tok-tok-tok eines Kugelschreibers, der am Pass im perfekten Rhythmus auf einen Notizblock niedersaust, zu hören sein wird. Für den schmächtigen Commis, der den Parmesanchip für das dritte Amuse-Bouche vergessen hat, werden es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die drei längsten Minuten seines Lebens werden. Denn Sergio Herman ist sauer. So sauer, dass er seinen Kontrollposten am Pass während des Service aufgibt, sich durch das hektische 18-köpfige Gemensche zum Vergesslichen durchkämpft und ihm 90 Sekunden lang dieselbe Frage ins Gesicht brüllt: „Why did you forget it??!!“ Der junge Mann, der bis zu diesem Zeitpunkt zumindest noch eine kleine Chance auf eine Karriere in einer der besten und mit Abstand härtesten Küchen Europas hatte, ist zu Eis erstarrt. Irgendwann, etwa bei der Halbzeit, würgt er dann – man möchte sagen endlich – ein kaum hörbares „Sorry“ hervor. Guter Ansatz, trotzdem eine ganz schlechte Idee. „What do you mean, you are sorry??!!“ Also nochmal quälende eineinhalb Minuten Tirade à la Herman. Und dann, ganz plötzlich, dreht sich der einzige Nicht-Franzose, der jemals 20 Gault-Millau-Punkte verliehen bekam, um, hastet zum Pass zurück, schickt einen mahnenden Blick in die Runde, schreit „Go! Go! Go!“ – und das Rädchen läuft einfach weiter, so, als wäre nichts geschehen.

Generationen von Köchen waren Teil dieses oder eines ähnlichen Szenarios, aber auch Teil dessen, was Herman seine Familie nennt. Sie wurden angeschrien und rausgeschmissen, gelobt und gefördert, geschasst und geliebt. Sie haben überlebt und hatten Spaß, das sagen die meisten über ihre Zeit bei Herman. Und, dass sie nirgendwo gelernt haben, penibler, sensibler und effizienter zu arbeiten als hier. Denn alles in dieser Part-time-Hölle, die ausnahmslos Himmlisches hervorbringt, passiert im Fast-forward-Modus. Selbst Sergio Hermans Kugelschreiber saust im Eiltempo auf den Notizblock nieder.
Tok. Tok. Tok.

Sinn und Wahnsinn
Das Oud Sluis ist der Geburtsort des Irrsinns absoluter kulinarischer Perfektion. Ein Platz, der Gordon Ramsays Hell’s Kitchen wie einen Kindergartenhort dastehen lässt. Und ein Fine-Dining-Fantasialand, das am 22. Dezember 2013 Vergangenheit sein wird. Sergio Herman ist ein Berserker, ein Getriebener, ein Genie – aber kein Typ, der leichtfertige Entscheidungen trifft. „Ich wollte diesen Schritt eigentlich schon früher setzen, aber erst jetzt bin ich emotional und professionell wirklich bereit dafür“, reflektiert der 43-Jährige über das nahende Ende einer Ära. Und er kann es kaum erwarten, das Monster, wie er das Oud Sluis selbst bezeichnet, in die ewigen Gourmet-Jagdgründe zu schicken. Der Druck der drei Sterne und seine eigene Rastlosigkeit haben ihn, so sagt er, im wahrsten Sinne des Wortes verschluckt.

Wer Sergio Herman einmal in der Küche des Oud Sluis erlebt hat, für den kommt das Ende dieses Monsters gar nicht so überraschend. Denn Herman ist im besten Sinne des Wortes besessen. Von absoluter Perfektion auf dem Teller, von ultimativer gesamtkompositorischer Harmonie, von Aromen-Konstruktion und -Dekonstruktion, von Essen als Kunstform und der ewigen kreativen Wiedergeburt. „Die Leute warten ein halbes Jahr darauf, im Oud Sluis einen Tisch zu bekommen“, erklärt er, ohne den Blick von seinen Notizen am Pass zu nehmen, während Sous Chef Nick Bril lautstark Kommandos ausgibt. „Da kann man sich keine Fehler erlauben. Niemals. Wir spielen hier jeden Tag ein ChampionsLeague-Finale, ausnahmslos.“ Zeitsparender ausgedrückt: „Push harder. Full speed. Alles geven.“ Im Laufe der nächsten zwei Stunden wird man diese drei Phrasen immer wieder aus Hermans Mund hören. Es sind die tragenden Säulen seines Lebens, seit er 1995 seinen ersten Michelin-Stern erkochte und seitdem alles und noch mehr von sich selbst und seinem Team abverlangt.

Die Suche nach kulinarischer Originalität war stets Sergio Hermans Lebensinhalt, Textur-, Temperatur- und Präsentationsorgien bestimmen seit eh und je das Menü im Oud Sluis. Die Amuse- Gueules wechseln so gut wie täglich, bis zu 30 Arbeitsschritte pro Teller sind notwendig. 40 Gedecke mittags, 40 Gedecke abends, fünf Tage die Woche, 17 Stunden am Tag, seit 25 Jahren. Abseits davon: vier Kinder, eine Frau, ein Kochbuchverlag, Gastkochauftritte. Man kann nicht mehr geben und in puncto kulinarische Meriten eigentlich auch nicht mehr erreichen. Sergio Herman ist im Oud Sluis am Zenit, und weil er Angst davor hat, stehen bleiben zu müssen, hört er auf.

Sergio Herman

Sex und Sakralbauten
In Wahrheit natürlich fängt er eigentlich gerade erst an. Bereits 2010 eröffnete er am nahe gelegenen Nordseestrand von Cadzand das Restaurant Pure C. „Ich hatte dieses Ibiza-Feeling im Kopf und wollte einen Ort schaffen, der ungezwungen und sexy ist, an dem fantastisches Essen, geile Drinks und entspannte Gediegenheit sich verbinden, ohne gewollt gekünstelt zu wirken“, sagt Herman über das Pure C, dem er sich in der Post-Oud-Sluis-Ära intensiver widmen wird. An vorderster Front wird dort aber weitherhin Hermans ehemaliger Wegbegleiter Syrco Bakker stehen. Der 29-jährige Küchenchef bescherte dem Pure C bereits nach einem Jahr den ersten Michelin-Stern. Dass ab 2014 noch einer hinzukommen wird, halten so gut wie alle renommierten Kritiker für mehr als wahrscheinlich. „Aber das Pure C wird nicht das neue Oud Sluis werden, wenn vielleicht auch der eine oder andere Klassiker aus dem Oud Sluis auf der Karte auftauchen wird. In erster Linie will ich Syrco in seiner Entwicklung unterstützen und mich gezielt aus dem Rampenlicht rausnehmen. Da war ich lange genug“, freut sich Herman auf sein neues Leben als kreatives Beiwagerl.

Auf der europäischen Gastro-Klatsch-und-Tratsch-Hitliste ganz weit oben steht aktuell allerdings Hermans Prestigeprojekt im angesagten Antwerpener Groen Kwartier. Ehemals eine Militärkapelle, soll seine zukünftig wenig sakrale Wirkungsstätte namens La Chapelle Anfang 2014 eröffnen. Und – so zumindest die Vision von Herman – die neue Fine-Dining-Benchmark der pulsierenden Handelsstadt werden. Für die Atmosphäre ebendort hat Designliebhaber Herman seinen Langzeit-Buddy, den international renommierten Interior- und Möbeldesigner Piet Boon, verpflichtet, für die Küche wird Chef Nick Bril verantwortlich sein. Bril ist seit sieben Jahren Hermans erster Mann in der zweiten Reihe des Oud Sluis, gemessen an der Halbwertszeit der Sluiser Küchenbrigadiers hat er Methusalem-Status. Dass Bril im La Chapelle die kulinarische Federführung übernimmt, ist voll und ganz in Hermans Sinn. Ähnlich wie bei Syrco Bakker findet Großmeister Herman nämlich, dass Bril längst reif für eine ordentliche Portion Eigenständigkeit ist. „Ich liebe es, an neuen Gerichten zu tüfteln, und dafür will ich mir in Zukunft noch mehr Zeit nehmen. Nick und ich sind ein eingespieltes Team, er wird das Ding schaukeln und seinen eigenen Style reinbringen. Und ich werde ihn dabei unterstützen.“

Es sind ungewohnte Sätze aus dem Mund eines Mannes, der den Ehrgeiz für sich gepachtet und 20 Jahre lang so gut wie jeden Teller, der über den Pass des Oud Sluis wanderte, kontrolliert hat. Aber man kann sie trotzdem deutlich spüren, diese typische Herman’sche Aufregung und Vorfreude auf das Neuland, das er bald betreten wird. Push harder. Full speed. Alles geven. Ganz werden diese drei Säulen niemals aus Sergio Hermans Leben verschwinden. Aber sehr bald kommen drei neue tragende dazu: weniger Kontrolle, mehr Freiheit, mehr Zeit.

Blumen auf dem Mond

www.sergioherman.com

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