Starkoch-Effekt: Warum in Kolumbien alle Kinder Köche werden wollen

Klischees sind anhänglich wie Zecken. Für lange Zeit waren Drogen und Kriminalität das erste, das man mit Kolumbien Assoziierte. Wie sich Ein Land mitHilfe von Spitzenköchen wie Leonor Espinosa, Alvaro Clavijo und Gastón Acurio neu erfindet.
November 22, 2018 | Text: Sissy Rabl | Fotos: Procolombia, Shutterstock, beigestellt

Wer zum ersten Mal einen Fuß auf kolumbianischen Boden setzt, kann sich auf eine Reise der Superlative einstellen. Kolumbien ist kein Land der Mäßigung, die Geschmäcke, Farben und Gerüche sind alle eine Spur intensiver in der Heimat von Pablo Escobar, Shakira und Gabriel García Márquez. Für die Verkündung der 50 Best Restaurants in Lateinamerika waren wir von ROLLING PIN vor Ort und haben nebenbei auch die Spitzenbetriebe der Landeshauptstadt Bogotá besucht.

Schon bei der Ankunft merkt man, die Geschichten rund um Kriminalität fußen zumindest zum Teil in der Realität: Das Sicherheitsaufkommen ist erhöht, an jeder Ecke steht ein Soldat oder Polizist mit Maschinengewehr, Taxifahrer soll man sich per Ausweis bestätigen lassen, um Entführungen zu vermeiden. Gerade dieses leidige Image hätte das Land – und insbesondere seine Tourismusagenturen – gerne los.
Alvaro Clavijo, Chef im El Chato
Genau in dem Moment fällt der Blick auf die heimische Gastronomie und die Erfolge aus Nachbarländern. Nachdem mexikanische und peruanische Küche zuerst auf alltäglichem Niveau mit Tacos und Ceviche ihren Einzug in das kulinarische Bewusstsein der Welt hielten, zogen alsbald die Sterneköche nach. Sei es Alex Atala aus Brasilien, Virgilio Martínez und Pía León aus Peru oder Enrique Olvera aus Mexiko: Die lateinamerikanische Küche ist in aller Munde. Sie bekommt eigene Fernsehsendungen, Netflix tritt ihr die Türen ein, Foodies fliegen um die ganze Welt, um sich diese Küche näher anzusehen.
Wollten früher alle Kinder in Lateinamerika Fußballer werden, wollen sie heute Chefkoch werden. Iss dich durch Kolumbien Auch in Kolumbien ist diese Welle angekommen und die gehobene Gastronomie boomt. Auf unserer Reise nach Bogotá haben wir die Chance, im Restaurant Leo von Spitzenköchin Leonor Espinosa zu essen, Platz zehn der Latin America’s Best Restaurants.
Die 23 Gänge serviert sie mit einer Landkarte Kolumbiens, in der die Herkunft der Produkte eingezeichnet wurde. Jedes Gericht stammt aus einer bestimmten Region, wurde nur mit Produkten aus ebendieser zubereitet und mit traditionellen Fruchtsäften und Getränken von dort begleitet. Es gibt kaum eine effektivere Art, die unglaubliche Produktvielfalt Lateinamerikas greifbar zu machen.

Produkte, denen europäische Gäste teilweise skeptisch oder zumindest fragend gegenüberstehen würden, sind bei ihr gang und gäbe: nach Zitronengras schmeckende Ameisen, das Fleisch von wilden Nagetieren oder Cacay-Nussöl. Als einen der Hauptgänge serviert sie Weißfisch im Páramo-Blatt eingewickelt mit Páramo-Rosmarin und Erbse.
Dazu gibt es einen Saft aus Maracuja und Páramo-Blättern aus dem tropischen Regenwald. Diese Art von Traditionsbewusstsein findet man in den verschiedenen Spitzenküchen Lateinamerikas wieder. „Der erste Schritt zum internationalen Erfolg der lateinamerikanischen Küche war die Rückbesinnung auf die natürliche Vielfalt unserer Produkte und unseres kulturellen Erbes“, weiß Javier Masías, Gastro-Journalist aus Kolumbien und Kenner der örtlichen Gastronomie.

Locker-lässig

Unser nächster Stopp führt uns ins El Chato, den höchsten Neueinsteiger und Nummer 21 der Latin America’s 50 Best Restaurants. Der 32-jährige Chefkoch Alvaro Clavijo genoss, wie viele seiner Kollegen aus der Region, eine internationale Ausbildung bei renommierten Betrieben wie dem noma und dem L’Atelier de Joël Robuchon, bevor er in seine Heimat zurückkehrte und gelernte Techniken in die kolumbianische Tradition einflocht.
Gericht von Leonor Espinosa
Seine Heimat betont er bereits beim Auftakt des Essens mit der simplen kolumbianischen Spezialität Pan de Bono, einem Maisbrötchen mit Käsefüllung. Obwohl es sich um gehobene Küche handelt, wird hier nicht viel Aufhebens gemacht um steife Abläufe, das Service-Team gibt sich lässig, das Essen wird in der Mitte des Tisches zum Teilen eingestellt.
Ähnlich wie im Restaurant Leo wird auch hier auffallend wenig Fleisch serviert. Bei den 50-Best-Talks vor der Verleihung wird auch klar, warum: Der Pro-Kopf-Konsum von Fleisch in Lateinamerika ist enorm. Besonders durch ihre Vorbildwirkung sehen sich viele der Spitzenköche dafür verantwortlich, hier bewusst gegenzusteuern.
Gemüse und Insekten als alternative Proteinspender oder auch unbeliebte Teile des Tieres kommen hier deshalb regelmäßig auf den Tisch. Das lokale Publikum ist dem auch nicht abgeneigt, immerhin gibt es Hühnerherzen hier an jeder Straßenecke zu kaufen. Außerdem ist auch der Social Impact von Spitzenköchen in Lateinamerika nicht zu unterschätzen: Schwergewichte wie die Peruaner Virgilio Martínez und Gastón Acurio – letzterer hat übrigens auch ein Restaurant in Bogotá – treten in Fernsehsendungen im Hauptabendprogramm auf, dienen jungen Menschen als Vorbilder.
Gaston Acurio, peruanischer Chef
Das dürfte auch einer der Hauptgründe sein, warum lateinamerikanische Betriebe kaum Probleme damit haben, Personal zu finden. Der Beruf ist begehrt, gut bezahlt und weniger formal als in anderen Teilen der Welt. Insbesondere in Kolumbien sind auch die Arbeitszeiten besser, da die meisten Restaurants aus Sicherheitsgründen schon um 20 Uhr schließen.
Bei der eigentlichen Kür der 50 Best Restaurants in Bogotá werden weitere Spezifika der lateinamerikanischen Gastronomie augenscheinlich: Zum einen sind viel mehr Frauen anwesend und werden auch prämiert als bei vergleichbaren Events anderorts. Zum anderen freut sich hier jeder für seinen Nächsten. Hier rauscht niemand mit angekratztem Ego verfrüht ab, wenn er nicht Erster wird. Hier lacht man gemeinsam, arbeitet zusammen.
„Vielleicht hat es damit zu tun, dass wir dieselbe Sprache sprechen, es ist einfacher zu kommunizieren. Es fühlt sich einfach an wie ein großes Land. Ich arbeite eng mit meinen Kollegen aus anderen Ländern zusammen, wir teilen unser Wissen und Rezepte. Es ist eigentlich egal, ob ich Erster, Zweiter oder Dritter bin“, meint Mitsuharu Tsumura vom Maido, Nummer eins der 50 Best Restaurants in Lateinamerika.

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