Ferran Adrià: «Ich will kreatives Denken in eine wissenschaftliche Methode gießen!»

Ferran Adrià hat mit seinem Restaurant elBulli in Katalonien nicht bloß eine ganze Generation von Köchen geprägt, sondern die weltweite Gastronomie maßgeblich weiterentwickelt. Seit 30. Juli 2011 kocht der 61-jährige Katalane für keine Gäste mehr. Die Welt des elBulli aber dreht sich unaufhörlich weiter. Gerade läuft die nächste Revolution an.
Dezember 7, 2023 | Text: Interview: Nina Wessely | Fotos: Raphael Gabauer, Francesc Guillamet, elBulliFoundation Archive, Pepo Segura

Man könnte meinen, aus dem einflussreichsten Koch des Jahrhunderts sei ein emsiger Wissenschaftler geworden. So konzentriert, wie  Ferran Adrià über seine Bücher gebeugt dasteht – allesamt gastro­nomischen Inhalts –, als wir den berühmten Katalanen zum Interview treffen. Sein Erscheinungsbild hat sich, seit er vor knapp 13 Jahren die Kochjacke an den Nagel hängte, kaum verändert. Schwarzes einfaches T-Shirt, die Locken ein wenig grauer, der Blick wach wie eh und je. Der Verstand scharf – das Denktempo: herausfordernd!

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Seitdem sein elBulli geschlossen hat, arbeitet Ferran Adrià fieberhaft daran, Kreativität auf wissenschaftlicher Ebene zu erfassen

Man könnte meinen, aus dem einflussreichsten Koch des Jahrhunderts sei ein emsiger Wissenschaftler geworden. So konzentriert, wie  Ferran Adrià über seine Bücher gebeugt dasteht – allesamt gastro­nomischen Inhalts –, als wir den berühmten Katalanen zum Interview treffen. Sein Erscheinungsbild hat sich, seit er vor knapp 13 Jahren die Kochjacke an den Nagel hängte, kaum verändert. Schwarzes einfaches T-Shirt, die Locken ein wenig grauer, der Blick wach wie eh und je. Der Verstand scharf – das Denktempo: herausfordernd!

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Seitdem sein elBulli geschlossen hat, arbeitet Ferran Adrià fieberhaft daran, Kreativität auf wissenschaftlicher Ebene zu erfassen

Mehrfach ausgezeichnetes bestes Restaurant der Welt auf der Liste der 50 Best, das Reservierungsbuch auf Monate voll, weltweite Bekanntheit – Sie haben Ihr Restaurant auf dem Zenit Ihres Erfolges geschlossen. Wieso das eigentlich?

Adrià: Um elBulli bleiben zu können, mussten wir elBulli schließen. Unser oberstes Ziel war es zu kreieren, zu erschaffen und Prozesse in der Top-Gastronomie zu hinterfragen. Das war im laufenden Gästebetrieb immer schwerer möglich.

Die Gäste haben also gestört. Und das Gefühl des Erfolgs hat das nicht aufgewogen? Wie hat es sich angefühlt, das beste und begehrteste Restaurant der Welt zu führen?

Adrià: Wir waren immer wir. Uns, und damit meine ich das gesamte Team des elBulli, waren und sind nach wie vor getrieben vom Wissensdurst und vor allem von Kreativität. Wir wollen erschaffen. Oft hat uns das, was außerhalb dieses Kosmos passierte, gar nicht erreicht. Unsere Motivation war nie der Ruhm. Wir wollten erschaffen – und ja, bis zu einem gewissen Grad auch revolutionieren.

Wenn ich Ihnen nun erzähle, dass ich im hintersten Winkel der Toskana in einem ambitionierten neuen Lokal vor wenigen Tagen Sphären und Espumas gereicht bekam – erfüllt Sie das mit Stolz? Ist die Revolution gelungen?

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Ein Gericht aus dem Jahr 2004 namens „Sopa de letras“ oder zu Deutsch: Buchstabensuppe. Einer der berühmtesten Signature Dishes aus dem elBulli

Adrià: Sphären und Co. sind Techniken, die genutzt gehören, genauso wie es eine Technik ist, ein Steak auf dem Grill richtig zuzubereiten. Natürlich freut es mich, das zu hören, und doch erinnert es mich an unsere schwierigsten Momente, an der Spitze unseres Erfolgs als laufendes ­Restaurant. Wir wollten immer Neues erfinden. Das war ein ungeheurer Druck, den wir uns selbst auferlegt haben.

Deshalb hieß es 2011 – „um elBulli bleiben zu können, schließen wir“?

Adrià: Genau. Ich spreche auch niemals von meinen Erkenntnissen und Techniken. Das elBulli als Konstrukt hat ein Vermächtnis, nicht ich als Person. Und dieses Vermächtnis heißt es nun zu teilen und unsere Erkenntnisse über kreatives Denken und Kreieren im gastronomischen Kontext zu erweitern und ebenso zu teilen. Und natürlich, Neues zu erschaffen.

Wie kann man sich das genau vorstellen? Man kann Sie ja im Restaurant nicht mehr besuchen?

Adrià: Der Kosmos elBulli war immer mehr als nur das Restaurant. Wir hatten immer mehrere Standbeine, wie das elBulli Catering, die uns unsere Forschung finanzierten. Auch mit Universitäten wie Harvard arbeiten wir schon relativ lange zusammen. Seit Juni dieses Jahres hat das elBulli am Standort des Restaurants als Museum wieder eröffnet. Wir freuen uns sehr über den Eröffnungserfolg. Mit so einem Andrang hatten wir nicht gerechnet. Im Mai starten wir in die zweite Saison des elBulli1846, so der Name des Museums, und bleiben bis Oktober offen. Im Museum in Roses, nahe Barcelona, zeigen wir die Vergangenheit, aber auch die Zukunft von elBulli.

In die Vergangenheit reist man in den Restaurantbereich, ein Teil des Museums. Der große Küchenpass und die beliebte Terrasse sind detailgetreu erhalten oder wiederhergestellt worden. Wir zeigen den Kosmos elBulli im Ganzen. Unsere Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen und den Gedanken und Projekten, die dadurch entstanden sind. Unter anderem zeigen wir auch die 512 Magazin-Cover, von denen ich heruntergelacht habe. Zwei Cover von Rolling Pin sind darunter. Aus dem „Gehirn“ des elBulli zeigen wir Sapiens. Das ist ein eigenes System, das wir zu kreativen Prozessen entwickelt haben. Die sogenannte Bullipedia wiederum hat den Anspruch, ein ganzheitliches gastronomisches Lexikon darzustellen. Aktuell gibt es sie nur in Buchform – sobald wir digitalisieren, soll dieses Wissen auch von Universitäten und Schulen angewandt werden.

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Die einstige Seele des elBulli, aufgenommen im Jahr 2005: Ferran Adrià, Juli Soler (verstorben 2015) und Albert Adrià

Die Gastronomie findet aber doch eher abseits von Universitäten statt … ?

Adrià: Und genau das ist das Problem. Köche wollen mehr und besser verstehen! Kein Mensch hat sich die Arbeit gemacht, kreatives Denken und Schaffen in der Gastronomie zu hinterfragen und auch eine Methode daraus zu entwickeln. Ich bin der Erste. Auch weil es dafür keine Zeit und kein Geld gibt – das bezahlt einem keine Restaurantmieten und Rechnungen, das tun die Gäste des Hauses. Von denen aber viele wiederum nach Altbekanntem fragen und somit selbst die Innovation behindern. Stoppt sie aber ganz, und gibt es keine Weiterentwicklung, so gibt es bald auch keine kreativen Restaurants mehr. Und daher sitze ich täglich an meinem Schreibtisch und studiere.

„Wir verlieren die ganze Kreativität der Frauen, wenn die Gastronomie nicht umdenkt!“
Im Thema Gleichberechtigung sieht Ferran Adrià nicht nur eine gesellschaftliche Notwendigkeit

Was studieren Sie denn aktuell?

Adrià: Immer die Kreativität. Aktuell analysiere ich bestehende Restaurants weltweit hinsichtlich ihres Levels an Kreativität. Ich bewerte nicht, ob das eine besser ist als das andere, sondern ob es kreativer ist.

Und wie gehen Sie da vor?

Adrià: Ich versuche, nach wissenschaftlichem Vorbild, zuerst einmal einen Konsens darüber zu finden, welches überhaupt die kreativsten Restaurants der Welt sind. Dazu analysiere ich den Guide Michelin und namhafte Listen wie die der „Worldʼs 50 Best Restaurants“, die „Best Chef Awards“, „La Liste“ und weitere.

Haben Sie bereits einen Konsens gefunden?

Adrià: Na ja, wenn wir von Gastronomie sprechen, sprechen wir von der Haute Couture der Gastronomie, der Formel 1 der Branche. Die Rechnung dazu ist folgende: Es gibt etwa sieben Millionen Restaurants weltweit. Davon sind 16.000 im Guide Michelin gelistet. 3370 davon haben ein, zwei oder drei Sterne. Von den 140 Dreisternern sind etwa 40 bis 50 auch auf den Listen wie den 50 Best vertreten. Das ist die objektive Analyse. Dann kommt die subjektive. Stellen Sie sich doch selbst die Frage – welche Restaurants stünden auf der Liste der kreativsten der Welt ganz oben? Ich kann nicht sagen, welches Restaurant das beste ist, aber ich kann sagen, welche das kreativste ist. Auch wenn das ganze eine sehr komplexe Arbeit ist. Am Ende soll eine Methode stehen, um Innovation gezielt umzusetzen.

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Seit Juni 2023 kann man das ehemalige elBulli-Restaurant als Museum besuchen

Wer soll diese dann nutzen?

Adrià: Alle Köche, die die Intention haben, etwas zu kreieren. Und tatsächlich die vielleicht nur Handvoll kreativer, junger Köche, Cracks, die die Zukunft der Gastronomie verändern können. Ich wünsche mir, dass Köche anhand der von mir entwickelten Methode Löcher, die sie in ihrem Innovationssystem haben, erkennen und schließen können. Wenn wir so gemeinsam überlegen? Aktuell – wer ist der kreativste Koch der Welt? Was hat er oder sie geschaffen? Ich möchte das, was in meinem Kopf ist, zumindest was die Kreativität in der Gastronomie betrifft, teilen. Ich wünsche mir, dass sich die Branche weiterentwickelt. Wenn es keine Kreativität gibt, dann stoppt es irgendwann.

Sehen Sie eine derart negative Entwicklung vor sich?

Adrià: Ein wirklich sehr kreatives Restaurant zu betreiben, ist sehr schwer. Es braucht junge Leute, die für Qualität einstehen. Wertschätzung für die Branche und dazu eben auch wissenschaftliche Werkzeuge, die helfen, gezielt zu erschaffen. Natürlich geht das nie ohne Talent, aber auch Talent gehört gelenkt und gefördert. Im Idealfall gezielt. Und da sind auch wir als vorhergehende Generation gefragt.

Aber ist echte Innovation im Zeitalter von Globalisierung und überbordendem Informationsfluss überhaupt noch möglich?

Adrià: Absolut! Der Informationsfluss von heute ist kein Nachteil. Die jungen Leute von heute sind besser aufgestellt, als wir früher. Ich suche nach neuen Talenten und analysiere Kreativität in Restaurants, damit die Talente von heute und morgen auf einem höheren Level starten, als wir damals. Und deswegen werde ich auch niemals müde, mein Wissen zu teilen.

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Bis heute jeden Tag akribisch auf der Suche nach der nächsten kulinarischen Revolution: Ferran Adrià

Tatsächlich gab es Phasen in Ihrem Leben, in denen es nicht so einfach war, Sie auf Ihr Wissen anzusprechen …?

Adrià: Ich weiß nicht, was Sie meinen (lächelt). Ich möchte heute nicht als der Opa erscheinen, der jetzt irgendetwas predigt. Ich möchte den Dialog der nächsten Generation mit Informationen, die mir Forschung und Erfahrung gegeben haben, stärken, verbessern und auf ein höheres Niveau heben. Damit die Branche insgesamt besser wird. Und das ist mir nur durch meine Erfahrung und Forschung möglich.

Was ist für die Weiterentwicklung der Branche unbedingt notwendig?

Adrià: Leidenschaft. Wissensdurst. Wissen. Die Nouvelle Cuisine zu kennen, um die Techniken und Neuerungen wissen, die sie hervorgebracht hat. Methoden für Innovation kennen und anwenden, und natürlich der Austausch untereinander. Und Gerechtigkeit im Sektor. Frauen müssen gefördert werden! Das kann doch nicht sein, dass es immer noch so einen massiven Unterschied in der Bezahlung gibt. Das muss geändert werden. Wir verlieren die ganze Kreativität der Frauen, wenn die Gastronomie nicht umdenkt.

Abschließend: Wann kann man mit den Ergebnissen aus Ihrer kreativen Analyse rechnen?

Adrià: Das wird schon noch mindestens ein Jahr dauern. Ich hoffe, dass die Darstellung unseres elBulli-Kosmos in Vergangenheit und Gegenwart im Museum auch die eine oder andere Inspiration für so manchen darstellt. Wenn das Museum geschlossen ist, arbeiten wir im Museum – und tun das, was wir auch getan haben, als das elBulli noch ein Restaurant war. Wir entwickeln neue Techniken, suchen Talente und erforschen seit nunmehr 13 Jahren die Kreativität. Ab Jänner teilen wir auf Instagram täglich eines unserer 1846 Gerichte, die wir im elBulli erschaffen haben. Es geht darum Wissen zu teilen. Ich habe mein Leben der Gastronomie gewidmet und freue mich, diese Leidenschaft mit allen zu teilen, die das genauso getan haben. Und ich weiß, es gibt viele davon.

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Ferran Adrià gilt als der einflussreichste Koch, den die Welt je gesehen hat. Die von ihm entwickelten Techniken sind heute, ohne dass viele es wissen, Standards in ziemlich allen Küchen dieses Planeten. Sein mehrfach als bestes Restaurant der Welt ausgezeichnetes elBulli an der Costa Brava war viele Jahre der Nabel der Kulinarikwelt und galt als Mekka der avantgardistischen Küche. Seine ehemaligen Schüler, wie René Redzepi (Noma), Andoni Luis Aduriz (Mugaritz) oder Eduard Xatruch (Disfrutar), zählen heute selbst zu den besten Köchen der Welt.

elbullifoundation.com

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