Zeitreise durch die Kulinarik der letzten 125 Jahre

Wer wissen will, wie die Gesellschaft tickt, sollte ihr in den Kochtopf schauen. Da liegen nicht nur Dosenravioli oder Seitan-Kreationen, da spiegeln sich soziale und wirtschaftliche Strömungen, internationale und regionale Trends.
September 10, 2025 | Text: Michi Reichelt | Fotos: Shutterstock, made with AI, beigestellt, Litoon Dev, Monika Reiter, El Bulli, NOMA, Big Mamma Group, Raphael Gabauer, Soren Gammelmark

Essen ist nie nur Essen – es ist Popkultur, Politik, Persönlichkeit. Also machen wir eine Reise durch diesen Spiegel des Zeitgeists.

Essen ist nie nur Essen – es ist Popkultur, Politik, Persönlichkeit. Also machen wir eine Reise durch diesen Spiegel des Zeitgeists.

Wirft man einen Blick auf die Geschichte der Kulinarik, wird schnell klar: Essen war immer viel mehr als reine Nahrungsaufnahme, immer schon ein Abbild der Gesellschaft – mal maschinell konserviert in Blech, mal handwerklich inszeniert auf Porzellan.

Wer einen Blick auf die Teller der ­letzten 125 Jahre wirft, sieht demnach auch mehr als schlichte Rezepte: Man liest darin Wohl­stand(sversprechen), Körperbewusstsein (beziehungsweise dessen Fehlen), Globalisierungswellen und Lifestyle-Attitüden (sowie ganz bewusste Gegenbewegungen).

Und natürlich die Handschrift jener Köche, die nicht nur ihre Zeit geprägt, sondern auch die Zukunft definiert haben.

Von der Dose zum Luxus

Wir befinden uns im frühen 20. Jahrhundert. Menschen wollen satt werden – und das ohne viel Aufwand. Speisen schmecken nach industriellem Fortschritt: Corned Beef, Kondensmilch aus der Tube, Ravioli aus der Dose. Einfach, haltbar, für alle erschwinglich.

Aber während auf dem Küchentisch die Dose klapperte, hob Auguste Escoffier im Londoner Savoy mit Gerichten wie Birne Helene oder Pfirsich Melba das Fine Dining in neue Sphären. Luxushotels wurden zu Kathedralen des guten Geschmacks, in denen die Elite zwischen Pfirsichen und Himbeersauce sündigte.

ENDE 1800: Die Haute Cuisine entstand aus dem Wunsch, das Kochen über das bloße Sattwerden hinaus zu verfeinern. Sorgfältige Auswahl der Zutaten und raffinierte Zubereitungstechniken schufen eine Esskultur, die kulinarische Tradition mit Innovation verband.

Die Haute Cuisine war geboren. Fernand Point legte mit Gerichten wie der berühmten Poularde en vessie den Grundstein für eine leichtere, produktorientierte Kochkunst, die später als Nouvelle Cuisine Geschichte machen sollte.

Die beiden Weltkriege veränderten dann nicht nur die politische Ordnung und die Gesellschaft. Auch die Kulinarik wurde nachhaltig geprägt. Die Nachkriegsjahre wollten es simpel und schnell: Convenience war angesagt. Tiefkühlpizza, TV-Dinner, Cornflakes – die Küche wurde zum Bequemlichkeitslabor. Während in den Wohnzimmern Instantpüree verspeist wurde, setzten die Troisgros-Brüder im Fine Dining mit ihrem Saumon à l’oseille einen revolutionären Kontrapunkt – elegant, säurebetont, weg von der Schwere der klassischen Haute Cuisine.

1900 – 1950: Während Fine Dining mit der Haute Cuisine ein neues Kapitel schrieb, griff die Bevölkerung zu Corned Beef und Ravioli aus Konservendosen: industrielles Futter für industrielle Zeiten.

Winneconne,  WI - 24 July 2020:  A package of Halal Targeter corned beef on an isolated background

Globalisierung, Diäten, neue Lust am Risiko

1950 – 1960: Nach dem Zweiten Weltkrieg kam das Wirtschaftswunder und mit ihm die Tiefkühlkost. Von der Pizza über Fischstäbchen bis zur Fertigmahlzeit, dem sogenannten „TV-Dinner“: Hauptsache, es ging einfach und schnell.

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Es folgten die weltoffenen 70er und mit ihnen die Zeit der kulinarischen Weltreise: Lasagne und Curry eroberten die westlichen Küchen, Tex-Mex schlich sich in die Supermärkte. In Lyon servierte Paul Bocuse seine legendäre schwarze Trüffelsuppe Soupe aux Truffes VGE, benannt nach dem französischen Staatspräsidenten Valérie Giscard d’Estaing. Ein Gericht, das Kochgeschichte schrieb und die Haute Cuisine zum Staatsakt machte.

Die Nouvelle Cusine expandierte, unter anderem nach Deutschland. Einer der Hauptdarsteller des „deutschen Küchenwunders“: Eckart Witzigmann, der dem Aubergine in München als erstes deutsches Restaurant drei Michelin-Sterne erkochte.

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1960 – 1970: Köche wie Paul Bocuse wandten sich gegen schwere Saucen und starre Regeln. Stattdessen setzten sie auf frische Zutaten, leichtere Zubereitung und kreative Präsentation. Die Nouvelle Cuisine wurde geboren.

Die 80er wiederum schmeckten nach „light“. Kalorienangst schlug sich bei der breiten Masse in Diät-Joghurts und Cola Light nieder, während die Haute Cuisine neue Experimente wagte. Nobu Matsuhisa schuf mit Black Cod with Miso die Blaupause der Fusionküche, während Joël Robuchon mit seinem Kartoffelpüree die Welt lehrte, dass Perfektion manchmal nur drei Zutaten braucht (und jede Menge Butter).

Und dann die 90er. Sie brachten Bio-Milch, Fair-Trade-Kaffee – und zwei Genies, die das Kochen neu schrieben: Ferran Adrià servierte im ElBulli seine Liquid Olive, Heston Blumenthal im Fat Duck den Snail Porridge. Molekularküche und multisensorisches Erleben machten Fine Dining plötzlich zu einer intellektuellen Disziplin. Fine Dining war plötzlich ein bisschen Punkrock: laut, provokant, intellektuell. Wer damals „nur“ ein Steak bestellte, hatte die Message nicht verstanden.

1970 – 1980

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Die 70er-Jahre gaben sich weltoffen: Spaghetti, Curry und Tex-Mex eroberten die Teller, asiatische Restaurants die Straßen – während Paul Bocuse mit seiner Soupe aux Truffes VGE Kochgeschichte schrieb.
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In der „Fresswelle“ der Nach-kriegszeit regierte üppiges Essen in Deutschland – doch dann hielt die Nouvelle Cuisine Einzug. Die deutsche Gastronomie entwickelte sich von der Gourmant- zur Gourmetküche. Eckart Witzigmann wurde zur Schlüsselfigur des „Küchenwunders“: Der gebürtige Österreicher erhielt als erster Koch in Deutschland drei Sterne. 

Food als „Religion“

Das neue Jahrtausend erklärte Essen endgültig zum Lifestyle. Barista-Kaffees und Craft Beer wurden Statussymbole, Sushi zum Alltagsessen. René Redzepi schockierte und inspirierte in Kopenhagen zugleich, als er mit The Hen and the Egg radikale Regionalität predigte und die ­Noma-Schule begründete.

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Die 80er. Geprägt von Kalorienangst. Joghurt, Cola, alles wurde „light“. Wer glaubt, dass sich die Haute Cuisine davon einschüchtern ließ, irrt. Nobu Matsuhisa setzte mit Black Cod with Miso den Startschuss für Fusion Food.

Die 2010er gaben sich dann gesund und grün. Superfoods waren omnipräsent. Bowls mit Chia, Açai oder Plant Based im wahrsten Sinne in aller Munde. Doch die Stars der Szene machten klar, dass Fine Dining kein Dogma kennt: Massimo ­Bottura inszenierte ein ironisches Missgeschick mit seiner zerschellten Zitronentarte, Daniel Humm wiederum servierte Karotten als Tatar – puristisch, vegetarisch, kompromisslos.

Und heute? Heute sind wir mitten in der nächsten Welle. Storytelling, Fermentation und Handwerk 2.0 bestimmen die Speisekarten der gehobenen Küche: Clare Smyth erhebt Kartoffeln mit Kaviar zu Kunst, Dominique Crenn lädt zum Waldspaziergang auf dem Teller, Rasmus Munk provoziert multisensorisch mit The Tongue Kiss.

Parallel dazu schleicht sich das vermeintliche Essen der Zukunft ins Rampenlicht: Laborfleisch, Snacks, aus dem 3D-Drucker, KI als Chefs. Und doch wird sich die Welt wohl nicht vor KI-Food und Laborsteaks fürchten müssen.

Vielmehr wird immer das Besondere, die Idee, im Mittelpunkt der Gastronomie stehen. Klar ist: Wir leben in Zeiten, die Effizienz, Skalierbarkeit und gleichbleibende Qualität fordern. Sprich: Die Systemgastronomie wird mit ihren Abläufen, ökonomischer Ressourcenplanung und Wiedererkennungswert weiter wachsen – und künftig der Big(gest) Player sein.

Auch hier wird sich aber das Außergewöhnliche durchsetzen. Denn wenn uns die vergangenen 125 Jahre etwas lehren: Es haben stets jene einen Impact hinterlassen, die sich etwas getraut haben.

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